Klaus Heid

Utopia

DIE ENTDECKUNG UTOPIAS Ein Reisebericht von Klaus Heidd, 1997/2007

Utopia liegt etwa 200 Kilometer westlich von San Antonio/Texas. Ein Schild mit der Aufschrift „UTOPIA – OUR PARADISE, LET´S KEEP IT NICE" markiert den Beginn der „Main Street". Eine etwas übertriebene Bezeichnung für eine staubige Straße, deren Ende – zu ihren Gunsten geschätzt – nach etwa 300 Metern absehbar ist. Am Anfang steht neben einem Motel, dessen fünf Zimmer selten belegt sind, das strahlend weiße Gebäude der Church of Christ. Mit der Utopia Lumber Company, dem ältesten Steingebäude der Stadt aus dem Jahr 1882, beginnt die Reihe der ein- und zweigeschossigen, meist aus Holz gebauten Häuser. Links ein Maklerbüro, dann das Utopia Post Office, die Utopia Trading Company, daneben ein kleines, halb verfallenes Häuschen, in dem sich jeden Morgen vier alte Männer an einem wackeligen Tisch zum Domino-Spiel treffen. Gegenüber das Lost Maples Cafe und der Utopia General Store, dessen Besitzer nicht nur alle notwendigen Waren des täglichen Lebens im überschaubaren Sortiment hat, sondern auf Bestellung auch exzellentes Barbecue-Fleisch besorgen kann. Vor dem Supermarkt parken während der Öffnungszeiten kaum mehr als vier Pickups oder Limousinen zur gleichen Zeit. In den Seitenstraßen stehen flache Holzhäuser mit großzügigen Gärten. Am Wochenende steigt der Rauch der Grillfeuer senkrecht in den strahlend blauen Himmel. Es ist ruhig in Utopia.

Touristen haben Utopia bisher kaum entdeckt, aber die Utopier den Tourismus. „Willkommen in Utopia!", verkündet ein Faltblatt, die im Postamt ausliegt. „Utopia ist ein Urlaubsparadies für die ganze Familie, das ganze Jahr. Das Klima sorgt für ein großartiges Gefühl von Glück und Gesundheit. In den milden Wintermonaten sind Hirsch- und Truthahnjagd die Hauptattraktionen. Das einzige Wort, mit dem sich der Frühling in Utopia beschreiben lässt ist: Herrlich! Wenn die Tage länger und wärmer werden, können Sie Fischen, Radfahren und Joggen oder Vögel und Wildtiere beobachten. Die Sommertage sind trocken und angenehm warm mit Temperaturen zwischen 25° und 35°C. Genau die richtige Zeit, um den Fluss hinunterzutreiben oder am Pool zu sitzen und ein herrlich erfrischendes Getränk zu sich zu nehmen. Den Herbst in Utopia müssen Sie gesehen haben. Wenn sich die Bäume golden verfärben ist das ein wirklich unvergesslicher Anblick. Bringen Sie unbedingt Ihre Kamera mit! Utopia – der perfekte Ort für Ihren Urlaub!"

Im Jahre 1852 berichtete der junge Postmeister Baker auf der Suche nach dem Utopia des Thomas Morus in einem Brief an seine Familie, dass er ein Tal im heutigen Texas erreicht habe, das paradiesisch schön sei und in dem sich zu leben lohne. „Hier ist Utopia!", schrieb er und begründete seine Begeisterung nicht zu letzt damit, dass das klare Wasser des Sabinal-Flusses ihn von seinen rheumatischen Beschwerden geheilt habe. Er blieb, baute eine Hütte, holte seine Familie nach und nannte den „Ort" Utopia

Heute leben rund 750 Einwohner in Utopia, US-Bundesstaat Texas. Die Utopier würden nie auf die Idee kommen, dass es sich bei ihrem Städtchen um das ideale Utopia handelt. Wie an jedem anderen Ort der Welt gibt es auch hier eine Kluft zwischen den Wünschen der Menschen und der Realität ihres Lebens. Aber die Utopier sind stolz, in einer intakten Gemeinde zu leben, in der die Angelegenheiten von ihnen selbst geregelt werden – ohne Bürgermeister, ohne Verwaltung, ohne Bürokratie. Jeder der Einwohner, mit

 

denen ich sprach, als ich den Ort 1997 gemeinsam mit den Filmemachern Anja-Christin Remmert und Uwe Teske besuchte, fühlt sich für die Stadt verantwortlich. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte und seine eigenen Träume.

„Die Leute, die hierher kommen, suchen das Paradies. Manche halten es hier aus, manche nicht", sagt Kathryn Gazaway, eine kleine, agile, damals 66 Jahre alte Lady. Sie lebt seit 1951 mit ihrem Mann in Utopia, dessen Familie seit 1885 zu den alt eingesessenen gehört. Den Namen Gazaway kann man häufig auf den Grabsteinen des kleinen Friedhofs lesen. „Die Kirchen und die Schule sind das Rückgrat dieser Stadt", erläutert Kathryn. „Wenn neue Familien in den Ort ziehen, dann werden sie von einer Frau aus einer Kirchengemeinde begrüßt und mit anderen bekannt gemacht. Sie müssen schließlich die ungeschriebenen Gesetze kennen lernen, das dauert seine Zeit". Zu den ungeschriebenen Gesetzen gehört auch, verrät Kathryn mit einem Augenzwinkern, dass man nicht gleich bei seiner ersten Teilnahme an einem der Bingo-Abende den Hauptgewinn einstreichen sollte. „Vor Jahren sagte mir ein Freund", fährt Kathryn fort, „Utopia ist der schönste Platz auf der Welt, wenn es dir nichts ausmacht, zu verhungern. Wer hier leben will, muss Geld mitbringen oder man muss ein Geschäft erben. Im Übrigen wollen wir gar keine große Stadt werden mit all den Problemen, die wir von den Großstädten kennen, wie Kriminalität und Drogen, Raub und Mord."

Viele Utopier sind im Rentenalter. Die Jungen wollen wegziehen, lieber heute als morgen, weg in die Großstadt. Utopia hat ihnen – außer einer guten Schulausbildung – nichts zu bieten, keine Disko, keinen Club, schon gar nicht ein Kino oder eine Shopping Mall. In der modern eingerichteten und mit dem World Wide Web vernetzten Schule werden ca. 200 Kinder und Jugendliche vom Kindergarten bis zum Abitur unterrichtet. Die Schule war auch Schauplatz des größten Skandals, an den man sich in Utopia erinnern kann: Vor zwei Jahren wurde das Verhältnis eines Lehrers zu einer Schülerin aufgedeckt. Der „San Antonio Express" berichtete unter der Überschrift: „Utopia ist nicht ideal: Sex Skandal spaltet die Gemeinde". Der Lehrer zog weg, niemand mag sich mehr erinnern, wohin.

In Utopia stehen sechs Kirchen für Gläubige unterschiedlicher Konfessionen. „Gospel Tabernakel" heißt die mit knapp 20 Mitgliedern kleinste Gemeinde, die sich in einem abweisenden Gebäude an der Hauptstraße eher versteckt. Die Vorhänge sind zugezogen und schirmen das Innere gegen neugierige Blicke ab. Jonathan Goff, 36, Sohn des Gründers, leitet das „Gospel Tabernakel". Er glaubt an den „Propheten" Wiliam Brenhan, geboren 1909. Brother William hatte die an sich sympathische Gabe, Wolken zu betrachten und aus dem, was er darin sah, die Zukunft vorherzusagen. Meist erkannte er in einer Wolke allerdings eine Teufelsfratze, und deshalb verwundert es kaum, dass Brenhan 1965 von einem betrunkenen Autofahrer im Streit erschlagen wurde. „Das kritisieren viele", berichtet Jonathan. „Wenn er ein Mann Gottes ist, wie konnte er im Streit von einem Betrunkenen getötet werden? Warum nicht?, gebe ich dann zur Antwort. Jesus wurde gekreuzigt, Johannes enthauptet, warum nicht im Streit von einem Betrunkenen erschlagen werden?" Lassen wir die Frage in dem düsteren, mit staubgrauen Holzbänken möblierten Raum stehen. Jonathan, ist Utopia der perfekte Ort? „Ich weiß nicht, wo der perfekte Ort ist. Ich weiß nur, dass es nicht Utopia ist und dass in der Bibel steht: Gott wird das Menschenwerk vernichten und an seiner Stelle das Himmelreich errichten. Ob es so kommen wird, kann ich nicht sagen, das ist allein die Sache Gottes."

„Utopia Quellwasser – Der Stolz Utopias" ist auf dem Etikett der Wasserflaschen zu lesen, die von der „Utopia Spring Water Company" vertrieben werden. Und weiter: „Wurde die Stadt nach dem Wasser benannt? Oder das Wasser nach der Stadt? Dieser Streit dauert schon seit Jahren an. Doch in einem sind sich alle einig: Der Geschmack von Utopia Quellwasser ist so, wie es der Bedeutung des Wortes Utopia entspricht – vollkommen und ideal."

Die „Utopia Spring Water Company" wurde 1983 von Ron Bounds gegründet. Das Wasser entspringt 20 Meilen flussaufwärts in den Bergen. Durch ein Rohr wird es ins Tal geleitet und in Tanks gesammelt. Ein Tankwagen transportiert es zu der voll automatisierten Abfüllfabrik, in der 10 Mitarbeiter beschäftigt sind. Viele Utopier sehen in Manager Ron Bounds einen derjenigen, der die Dinge in Utopia bewegt. Und der stämmige Mittfünfziger, der seine „Utopia Spring Water"-Cap vermutlich selbst im Bett nicht ablegt, sieht das genau so: „Wissen Sie", erläutert Bounds jovial, „wir haben hier keine Regierung, keine Verwaltung, wir brauchen keine staatliche Wohlfahrt und niemanden, der uns sagt, was wir machen sollen. Egal, was passiert, die Menschen in Utopia sorgen dafür, dass die Probleme gelöst werden. Wir fragen nicht, ob die Regierung uns helfen kann, wir helfen uns selbst." Die Entscheidungen fallen – neben den Kirchengemeinden – im Lions-Club. Dort treffen sich Männer und Frauen und beraten Gemeindeangelegenheiten. Als eine „Gruppe von Machern und Denkern" bezeichnet Ron die Mitglieder des Clubs. Für ein Projekt gibt jeder soviel Geld, wie er kann, beispielsweise für den Kauf eines hochmodernen Ambulanzwagens vor zwei Jahren. Und jeder half nach Kräften beim Bau der Schule, des Feuerwehrhauses oder der Klinik mit.

„Die Leute hier sind wie eine Familie", beschreibt Ron die Utopier. Wenn neue Leute zuziehen, dann müssen sie, ich würde sagen, durch eine Prüfungszeit gehen. Sie müssen durch das, was sie tun beweisen, dass sie wert sind, echte Utopier zu sein. Um in die Gemeinde hineinzupassen, muss man bereit sein, zu geben und zu nehmen. Wer nicht bereit ist, das zu tun, kann in der Gemeinde leben, wird aber nie ein Teil der Gemeinde sein … wissen Sie, was ich meine? Man kann sich eingliedern, wenn man will. Aber man kann nicht herkommen und versuchen das zu ändern, was über hundert und mehr Jahre funktioniert hat. Wenn die Leute bereit sind, sich dem „Utopian Way of Life" anzupassen, dann gliedern sie sich sehr gut in die Gemeinde ein und werden anerkannt. So geht das hier."

Utopias reines Wassers ist ein Synonym für Gesundheit, jedenfalls in Utopia. Das Wasser enthält viel Lithium, ein Mineral, das Ärzte gegen Depression verschreiben. Tatsächlich ist aber gerade die Depression eines der größten Probleme, gegen das der Arzt Allan Boutwell und sein vierköpfiges Team in der kleinen ambulanten Klinik zu kämpfen haben. Woran das liegt? An der Einsamkeit, meint Allan, die viele hier suchen und der sie dann überdrüssig werden, wenn sie in Langeweile umschlägt.

Über Langeweile beklagen sich Marc und Marie Hall, beide Anfang 40, nicht. Vor 19 Jahren kamen Sie nach Utopia, haben drei Töchter, Marc ist Architekt, Marie betreibt organischen Gartenbau. Das Geschäft mit der Naturkost ernährt die Familie gut, wie man an ihrem großzügigen Haus sehen kann, das Marc gebaut hat. Ansonsten gibt es in Utopia für einen Architekten nicht viel zu tun. Die Gemeinde hat keine neuen Baupläne, wenn´s hoch kommt kann Marc hier ein Dach, dort ein Geländer ausbessern. „Wenn wir über Utopia sprechen", sagt Marc, „gelingt es mir nicht, diesen Begriff genau zu definieren. Ich denke, die Menschen machen Utopia aus. Und es hat etwas mit der Größe des Ortes zu tun: Utopia ist nur als Kleinstadt denkbar." Marcs Blick schweift über den Garten und wirkt für einen Moment entrückt, bevor er sagt: „Vielleicht sollten wir uns vom idealisierten Utopia verabschieden, damit wir mit unserer Wirklichkeit hier und heute freier umgehen können.